Manuelles Heben, Halten und Tragen am Arbeitsplatz
Die Last mit der Last
Statistiken zeigen: Verletzungen und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems gehören zu den häufigsten Gründen für Arbeitsausfälle in Deutschland. Sie sind zudem oft Mitursache oder Auslöser einer Reihe von Beschwerden und Erkrankungen.
Das schlägt sich in der Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage (AUTage) nieder. Ein guter Grund für Unternehmen, arbeitsbedingte Muskel- und Skelettbelastungen mit Hilfe von Präventivmaßnahmen zu reduzieren.
Muskel-Skelett-System im Gleichgewicht?
Das komplexe und robuste Muskel-Skelett-System besteht aus Knochen, Gelenken und Muskeln, die aufeinander abgestimmt zusammenarbeiten. Allerdings kann häufige Überlastung genauso wie auch Unterforderung dieses System aus dem Gleichgewicht bringen und dieses Zusammenspiel von Muskeln, Knochen und Gelenken negativ beeinflussen.
Muskel- und Skelettbelastungen an Arbeitsplätzen sind vielfältig. Zu nennen sind hier unter anderem Tätigkeiten in Körperzwangshaltung, etwa dauerhaftes Knien, ebenso wie die Einwirkung von Vibrationen, etwa Hand-Arm- und Ganzkörpervibrationen.
Gesundheitliche Gefährdungen
Ein wesentlicher Bestandteil vieler Tätigkeiten in Industrie und Handwerk ist nach wie vor das manuelle Heben, Halten und Tragen von Lasten. Diese Tätigkeitsanteile können ebenfalls zu gesundheitlichen Problemen führen, wenn sie häufig oder nicht richtig ausgeführt werden. Belastet werden dabei schwerpunktmäßig Rückenmuskulatur, Bandscheiben, Bandapparat und Wirbelsäule – aber auch die Muskulatur des Nackens, der Schultern, der Hände, der Arme und Beine sowie die sogenannten großen Gelenke wie Schulter und Hüfte. Tätigkeiten mit entsprechenden Belastungen gibt es in den Branchen Holz und Metall einige.
Dazu zählen unter anderem:
- das Be- und Entladen etwa von Lkws
- das Sortieren und/oder Umsetzen von Werkstücken, Material, etc.
- das Bestücken von Maschinen
- die Rädermontage im Kfz-Handwerk
Eine wesentlich erhöhte und hohe Muskel-Skelett- Belastung durch Heben, Halten und Tragen kann zur Überforderung und Ermüdung der Muskulatur mit kurzfristigen (akuten) oder langfristigen (chronischen) Beschwerden und Erkrankungen des Muskel-Skelett-Systems führen. Kurzfristige Beschwerden können zum Beispiel schmerzhafte Verspannungen oder plötzlich auftretende starke Schmerzen im unteren Rücken sein, auch bekannt als „Hexenschuss“.
Bei über Jahre andauernden hohen Belastungen durch Heben, Halten und Tragen kann es unter anderem zu Bandscheibenschäden oder auch zu Arthrose in den großen Gelenken kommen. Daneben kann das Heben, Halten und Tragen auch für Arbeitsunfälle verantwortlich sein. Mit einer Last in den Händen lässt die Fähigkeit, schnell auf plötzliche Ereignisse zu reagieren, nach.
Das Ausmaß der körperlichen Belastung erfassen
Bei Tätigkeiten, die manuelles Heben, Halten und Tragen beinhalten, ist die Einhaltung der geltenden Arbeitsschutzvorschriften unerlässlich. Arbeitgeber sollten die Lastenhandhabungsverordnung und andere relevante Vorschriften kennen und sicherstellen, dass sie eingehalten werden. Gemäß Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) ist für physische Belastungen eine Gefährdungsbeurteilung zu erstellen.
Durch Analyse, Bewertung und Beurteilung von Tätigkeiten und der daraus resultierenden Festlegung und Umsetzung präventiver Maßnahmen können Fehlbelastungen minimiert und somit mögliche Erkrankungen vermieden werden. Die Checkliste „Orientierende Gefährdungsbeurteilung bei Belastungen des Muskel- und Skelettsystems (Stufe 1)“, enthalten in der DGUV Information 208-033 „Muskel-Skelett- Belastungen – erkennen und beurteilen“, und die Leitmerkmalmethode „Heben, Halten und Tragen“, herausgegeben von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), können bei der Erstellung der Gefährdungsbeurteilung unterstützen.
© BAuA MEGAPHYS Bericht Teil 1
Das Ausmaß der körperlichen Belastung beim Heben, Halten und Tragen wird durch verschiedene Faktoren bestimmt. Neben der Erfassung der Lastgewichte sind für die Belastungsermittlung noch weitere Aspekte und Merkmale zu berücksichtigen und tätigkeitsbezogen zu ermitteln:
- die Häufigkeit und Dauer der Hebe- oder Haltevorgänge sowie beim Tragen die Weglänge
- die Ausführungsbedingungen, zum Beispiel beim Tragen die Bodenbeschaffenheit
- die Körperhaltung, etwa von Oberkörper und Armen
- die Greifbedingungen, die Kraftübertragung und die Griffgestaltung
- die Lastposition bezogen auf den Körper: symmetrisch oder asymmetrisch
- Höhe, Position und Kraftangriffspunkt
- Greifausgangshöhe und Greifendhöhe, zum Beispiel körperfernes Greifen oder Greifen über Schulterhöhe
- wie die Last aufgenommen wird: einhändig oder beidhändig
- wer die Last aufnimmt: eine oder mehrere Personen
- die Arbeitsorganisation: Gibt es zum Beispiel Belastungswechsel durch Jobrotation?
Von den genannten Faktoren hängt ab, wie wahrscheinlich es ist, dass Fehlbeanspruchungen auftreten.
Präventionsmaßnahmen nach dem TOP-Prinzip
Arbeitgeber sollten bei Vorliegen einer Belastung durch manuelle Lastenhandhabung die ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze in Betracht ziehen. Bei der Minimierung von Fehlbelastungen durch Heben, Halten und Tragen sollte die Maßnahmenhierarchie nach dem TOP-Prinzip beachtet werden. Das heißt, dass technische Schutzmaßnahmen vor organisatorischen und diese wiederum vor persönlichen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind.
Beispiele für technische Maßnahmen:
- Wenn sie verfügbar sind, sollten technische Hilfsmittel wie zum Beispiel Hubwagen, Treppensteiger oder spezielle Transportwagen wie zum Beispiel Plattenwagen verwendet werden, um belastende Tragesituationen zu vermeiden und schwere Gegenstände manuell zu transportieren.
- Für die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung kommen zum Beispiel Krane, Handlingsgeräte, Balancer, Hubgeräte zur Anpassung der Arbeitshöhe oder eine Arbeitsplatzverkettung etwa durch Rollen- oder Kugelbahn in Frage. Optimalerweise werden die Beschäftigten schon in der Planungsphase in die ergonomische Arbeitsplatzgestaltung mit einbezogen.
Beispiele für organisatorische Maßnahmen:
- Sofern das möglich ist, sollten schwerere Gegenstände wie zum Beispiel Profilstäbe nicht in Gebinden, sondern einzeln manuell gehandhabt werden.
- Heben und Tragen zu zweit reduziert das Lastgewicht pro Person.
- Auch das Heben und Tragen von schweren Gegenständen im Voraus zu planen und zu organisieren, kann Belastungen reduzieren. Zum Beispiel sollte der Transportweg vorher betrachtet werden, um Hindernisse zu identifizieren und zu beseitigen. Auch kann so geprüft werden, ob der temporäre Einsatz von technischen Hilfsmitteln – zum Beispiel auf Baustellen – in Frage kommt.
- Bei längeren und/oder regelmäßigen Hebe- und Trageaktivitäten sollten Pausen eingelegt werden, um Ermüdung und einer möglichen Schädigung des Muskel-Skelett-Systems vorzubeugen.
- Liegt eine wesentlich erhöhte oder hohe Muskel- Skelettbelastung vor, ist den Beschäftigten gemäß der Arbeitsmedizinischen Regel (AMR) 13.2 „Tätigkeiten mit wesentlich erhöhten körperlichen Belastungen mit Gesundheitsgefährdungen für das Muskel-Skelett-System“ eine arbeitsmedizinische Vorsorge anzubieten.
© Ernst Zieker GmbH
Beispiele für persönliche Maßnahmen:
- Training und Schulung: Mitarbeitende sollten darin geschult und unterwiesen werden, belastungsreduzierende Hebe- und Tragetechniken anzuwenden und ergonomische Hilfsmittel zu nutzen. Training und Schulung erhöhen die Akzeptanz dieser Hilfsmittel bei den Beschäftigten. Weiter können zum Beispiel belastungsbezogene Kräftigungsübungen, etwa im Rahmen von Arbeitsplatzgymnastik, angeboten werden.
Die BGHM berät ihre Mitgliedsunternehmen auf Wunsch zu den Präventionsmöglichkeiten im Bereich Heben, Halten, Tragen. Sprechen Sie Ihre Aufsichtsperson gerne darauf an.
Daniel Kern, BGHM
Ausgabe 6/2024