Auf Umwegen und Abwegen

Mit der Straßenbahn zum Arzt und dann nach Hause

Wann besteht bei der Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln und einer Unterbrechung dieser Fahrt gesetzlicher Unfallversicherungsschutz? Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden.

Ein Versicherter fährt wie jeden Tag mit der Straßenbahn nach Hause. Zwei Linien fahren in Richtung seiner Wohnung, eine der beiden ist wegen einer kürzeren Strecke vier Minuten schneller als die andere. Üblicherweise steigt er immer in die erstbeste Straßenbahn ein, um Wartezeiten zu vermeiden. Am Unfalltag nimmt er die Straßenbahn mit der längeren Fahrtzeit, da er noch bei seiner Hausärztin, deren Praxis an dieser Strecke liegt, ein Rezept abholen möchte.

Nach dem Verlassen der Praxis geht er zur nächstgelegenen Haltestelle in Richtung seiner Wohnung. Auf dem Weg wird er von einem Pkw erfasst und verletzt. Der Unfall ereignet sich auf einem Streckenabschnitt, den er mit der Straßenbahn auch passiert hätte, wenn er nicht wegen des Arztbesuches ausgestiegen wäre. Ein Arbeitsunfall lag vor, entschied das BSG im Juni 2022. Zum Unfallzeitpunkt habe sich der Versicherte auf dem unmittelbaren Weg nach Hause befunden.

Mit der Straßenbahn zum Arzt und dann nach Hause; © jessica/stock.adobe.com

Spielraum bei der Routenwahl

Bei der Wahl der Route haben Versicherte nach der Rechtsprechung Spielraum für individuelle Überlegungen, Vorlieben, Neigungen und Gewohnheiten. „Ist die eingeschlagene Route länger als die kürzeste, schnellste oder direkte Strecke, so stellt dies den Versicherungsschutz nur in Frage, wenn für die Wahl des Weges andere Gründe wesentlich waren als die Absicht, den Zielort zu erreichen“, so das BSG.

Da die Fahrt dazu diente, zunächst zu einem privaten Ziel (Arztpraxis) und dann weiter nach Hause (versicherter Weg) zu fahren, lag eine sogenannte gemischte Motivationslage vor. In solchen Fällen besteht Versicherungsschutz, wenn die konkrete Verrichtung (Straßenbahnfahrt) auch vorgenommen werden würde, wenn die private Motivation entfiele. So war es hier: Auch ohne den Besuch beim Arzt fuhr der Versicherte regelmäßig auf dieser Strecke nach Hause.

Da der Versicherte den versicherten Heimweg mit dem Verlassen der Straßenbahn zu einem privaten Zweck unterbrochen hatte, musste das BSG entscheiden, wann der unterbrochene Weg wieder aufgenommen worden war. Das Ergebnis: Die Unterbrechung endete nicht mit Erreichen der Straßenbahnhaltestelle, sondern bereits mit Erreichen des öffentlichen Verkehrsraums, den auch das öffentliche Verkehrsmittel benutzt.

Es genügte somit, dass der Versicherte den Weg zur Haltestelle bereits in dieselbe Richtung wie das öffentliche Verkehrsmittel zurücklegte. Hätte er erst in die entgegengesetzte Richtung, in diesem Fall in Richtung der Arbeitsstelle, zu einer Haltestelle zurückgehen müssen, hätte ein unversicherter Abweg vorgelegen (BSG vom 28.06.2022, Az. B 2 U 16/20 R).

Karl Heinz Schwirz, BGHM

Ausgabe 3/2023