Materialauffälligkeiten
Wenn Chemie „Blüten“ treibt
Auch an Kunststoffen, die zu Recht als sehr stabil gelten, nagt unter Umständen der Zahn der Zeit und sie verändern ihre Eigenschaften. Welche unerwarteten Folgen diese Veränderungen haben können, zeigt das Beispiel eines BGHM-Mitgliedsbetriebs: Die Kunststoffummantelung von Kabeln wurde „pelzig“.
Um Gefährdungen durch marode Leitungen auszuschließen, begann die Suche nach der Ursache und den passenden Schutzmaßnahmen. In dem Betrieb traten in einem großen Produktionsbereich der mechanischen Fertigung deutliche Beläge unterschiedlicher Färbungen und Strukturen an Ummantelungen von Kabeln und Leitungen auf.
Die Kabel und Leitungen befanden sich überwiegend in Schaltschränken (Bild 1), die von außen über Lüftungsschlitze und teils integrierte Ventilatoren über die Hallenluft belüftet wurden. Bei der Betriebsbesichtigung fielen verschiedene, ungleichmäßig ausgeprägte „Ausblühungen“ auf. Sie betrafen nicht alle Kabel und Leitungen, selbst dann, wenn es sich augenscheinlich um die gleiche Art von Isolationsmaterial handelte (Bilder 2 und 3).
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Die Kabel führten zum Teil Netzspannung, sodass eventuell von unterschiedlichen Temperaturen auszugehen war, die einen weiteren Einfluss auf die „Ausblühungen“ haben konnten. Worum handelte es sich bei den Belägen und wie konnten diese verhindert werden? Aufgrund des pelzigen Aussehens kam zunächst die Vermutung auf, dass es sich um einen möglichen Schimmelpilzbefall handeln könnte. Dagegen sprach jedoch die eher unregelmäßige Verteilung.
Schimmelpilze befallen auch keine Kunststoffummantelungen in dem Sinne, dass sie in diese eindringen und sie zersetzen. Vorstellbar war allenfalls der Bewuchs einer oberflächlichen feuchten Staub- oder Ölschicht, die auf dem Isolationsmaterial sozusagen als Nährboden diente. Weiterhin wäre bei einem Schimmelbefall auch davon auszugehen gewesen, dass alle Kabel oder Leitungen in ähnlicher Weise betroffen gewesen wären und nicht wie im dargestellten Fall, in dem zum Beispiel bei identischen, parallel geführten Kabeln nur eines betroffen war.
Chemisch statt biologisch
Eine einfache mikroskopische Untersuchung bestätigte, was sich bereits bei einer Fingerprobe hatte ertasten lassen: Es handelte sich nämlich um kristalline Strukturen chemischer Substanzen und nicht um biologisches Material. Das war auch das Ergebnis einer Laboranalyse, die der Betrieb durchführen ließ. Bei den Ausblühungen handelte es sich eindeutig um Inhaltsstoffe aus dem Material der Ummantelungen. Ob hierbei ein Materialfehler vorlag oder ob es sich um Unverträglichkeiten mit umgebenden Substanzen in der Luft handelte, wurde nicht untersucht.
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Schäden verhindern
Es bleibt aber festzustellen, dass Kunststoffe unter Umständen nicht dauerstabil sind. Eine Rolle können hier „normale“ Alterungsprozesse spielen, die zum Beispiel von Sonnenlicht (UV-Strahlung) begünstigt werden. Aber auch Materialunverträglichkeiten von verschiedenen Kunststoffen im Zusammenhang mit Kühlschmierstoffanwendungen werden beobachtet. Die VDI-Richtlinie 3035 „Gestaltung von Werkzeugmaschinen, Fertigungsanlagen und peripheren Einrichtungen für den Einsatz von Kühlschmierstoffen“ gibt hierzu Informationen und kann vor Schäden schützen, wenn sie schon bei der Planung von Anlagen berücksichtigt wird.
Die Richtlinie wurde überarbeitet und in 2 Blätter geteilt. Die VDI-Richtlinie 3035 Blatt 2 „Materialauswahl bei der Gestaltung von Werkzeugmaschinen, Fertigungsanlagen und peripheren Einrichtungen für den Einsatz von Bearbeitungsmedien (Kühlschmierstoffe, Umformschmierstoffe)“ enthält viele Informationen zum Thema Materialunverträglichkeiten. Ob Materialunverträglichkeiten im dargestellten Fall eine Rolle gespielt haben oder daran beteiligt waren, hätte sich nur durch weitere aufwendige Untersuchungen feststellen lassen.
Grundsätzliche Aussagen zu einer Schädigung von Kabelummantelungen durch Kühlschmierstoff können nicht getroffen werden, denn: Andere Materialien mit anderen Kühlschmierstoffen unter anderen klimatischen Bedingungen führen zu anderen Ergebnissen. Letztendlich bleibt in solchen Fällen nur, die Kabel zu prüfen, wenn notwendig auszutauschen und bei der Neuinstallation so gut wie möglich, auch unter Einbeziehung der VDI-Richtlinie 3035, die Umgebungsbedingungen zu berücksichtigen.
Dr. Jens Manikowski, Dr. Isabel Warfolomeow, BGHM
Kommentar der Autoren
Es ist wichtig und kostensparend, sich bereits im Vorfeld über die Gegebenheiten vor Ort zu informieren, geeignetes Material für die Arbeitsumgebung auszuwählen und hierbei zu berücksichtigen, dass Materialien auch einem Alterungsprozess unterworfen sein können. Das gilt, wie der vorliegende Fall zeigt, auch für vermeintliche Kleinigkeiten wie Kabel. Eine wirklich umfassende Gefährdungsbeurteilung, die stets aktuell ist, alle betrieblichen Bedingungen berücksichtigt und auf Veränderungen sofort reagiert, trägt dazu bei, dies sicherzustellen.
Ausgabe 2/2024