Sicherheitspreis für betriebliche Praktiker

„Es ist wie bei einem Anschnallgurt im Auto“

Unterweisung ist mehr als das Durchklicken einer Präsentation, Kommunikation ist mehr als die Weitergabe von Information. Matthias Körte, Fachkraft für Arbeitssicherheit bei ROM Technik, sind diese Grundsätze nicht nur bekannt – mit einer simplen und effektiven Idee hat er sie im Betriebsalltag nun mit Leben gefüllt. 

Kurz vor Feierabend, auf dem Fahrgerüst, schnell noch die Anschlüsse für den folgenden Tag ausmessen. Der erste Anschluss ist bereits aufgenommen, der zweite nur zwei Meter entfernt. Absteigen und das Gerüst weiterschieben? Ach, das geht auch so!

„Welche Folgen so ein improvisiertes Handeln haben kann, haben wir selbst erlebt“, erzählt Matthias Körte, Fachkraft für Arbeitssicherheit bei ROM Technik am Standort Hamburg. Sein Kollege stieg damals nicht vom Fahrgerüst ab – dann ging alles ganz schnell: Ein Rad geriet in eine Bodenöffnung, das Gerüst  kippte, der Kollege fiel hinaus und verletzte sich.

Sicher arbeiten

„Es ist wie bei einem Anschnallgurt im Auto“; Als Sicherheitsfachkraft setzt sich Matthias Körte für sicherheitsbewusstes Arbeiten ein.

Als Sicherheitsfachkraft setzt sich Matthias Körte für sicherheitsbewusstes Arbeiten ein

Aus seiner langjährigen Berufserfahrung kennt Körte weitere Geschichten dieser Art: „Unsere Gefährdungsbeurteilungen haben gezeigt: Unsere Maschinen und Arbeitsmittel haben die notwendige Sicherheitstechnik. Dennoch kommt es immer wieder zu Beinaheunfällen oder Unfällen. Wir haben uns angeschaut, woran das liegen könnte.“ Die Beschäftigten des auf Gebäudetechnik spezialisierten Unternehmens sind oft auf Großbaustellen unterwegs, hier arbeiten viele Gewerke zusammen und es kann schnell unübersichtlich werden. „Da kommt es darauf an, dass alle sicherheitsbewusst arbeiten“, sagt die Sicherheitsfachkraft. „Das beginnt bei der Organisation und geht bis zum Verhalten jedes und jeder Einzelnen:  Persönliche Schutzausrüstung tragen, besonnen handeln, Sicherheitshinweise beachten.“

Aufsichtsperson Torsten Mühlmann berät Betriebe zur Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.Aufsichtsperson Torsten Mühlmann berät Betriebe zur Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

Beim Spielen mit dem Geschicklichkeitsspiel „Wackelturm“, kam Körte auf eine Idee, wie er dieses sicherheitsbewusste Verhalten im Betrieb fördern kann: Er wollte Unterweisungen anschaulicher gestalten. Kurzerhand entwickelte er den „Wackelturm“ dazu weiter. Bei dem Spiel werden Holzsteine reihum aus einem Turm gezogen und oben wieder gestapelt. So wird der Turm immer höher, aufgrund der an der Basis fehlenden Steine instabiler und kippt irgendwann.

„Eine wirkungsvolle Unterweisung ist ein wichtiges Element, um sicherheitsbewusstes Arbeiten zu fördern“, bestätigt Torsten Mühlmann den Ansatz. Die BGHM-Aufsichtsperson begleitet ROM Technik seit 2015 in Sachen Arbeitsschutz. Die neue Idee für die Unterweisung hat Mühlmann in Aktion gesehen.

Der Turm in Aktion

Beschäftigte haben sich um den Tisch mit dem Holzturm versammelt, sie deuten auf die fein gestapelten Holzsteine, einige runzeln die Stirn. Körte bittet einen Kollegen, einen Stein aus dem Turm zu schieben. „Ich habe meine Schutzbrille nicht genutzt“, liest dieser den Satz vor, der in bunten Farben auf dem Stein steht. Das nimmt Körte zum Anlass, Fragen zu stellen. In welchen Arbeitsbereichen ist eine Schutzbrille notwendig? Welche Arten von Brillen gibt es?

Das Team überlegt, diskutiert, findet Antworten. Welche Folgen hat es, wenn die Brille nicht aufgesetzt wird? Auf einem Bildschirm erscheint ein verätztes Auge. Wie hätte die Verletzung verhindert werden können? „Besonders wichtig ist mir, gemeinsam mit den Beschäftigten zu überlegen, unter welchen Bedingungen die Unfälle entstanden sein könnten und wie sie effektiv verhindert werden – genau wie bei Unfalluntersuchungen. Sie beantworten die Fragen im Laufe des Spiels selbst“, sagt Körte.

Auf jedem Holzstein ist eine sicherheitswidrige Arbeitsweise beschrieben.Auf jedem Holzstein ist eine sicherheitswidrige Arbeitsweise beschrieben.

Jetzt werden reihum Spielsteine gezogen, jeden von ihnen hat Körte mit einer kurzen Beschreibung einer unsicheren Situation beklebt. Ich habe meinen Schutzhelm nicht genutzt – Körte erzählt von einem Kollegen, der daraufhin eine Platzwunde davontrug. Die anfängliche Skepsis einzelner Teilnehmender weicht der Neugierde, dem Ehrgeiz. Immer höher stapeln sie den Turm. Ich habe keine Schutzhandschuhe benutzt. Dieser Satz wird oft gezogen. Körte hat ihn sechs Mal aufgedruckt, da er häufiger beobachtet hat, wie dieses Verhalten von Vorgesetzten geduldet wurde.

Wieder hinterlässt der Stein ein Loch im Turm. „Es sammelt sich!“ meint ein Teilnehmer. Er ist als nächstes dran. Ich habe meine Leiter falsch benutzt, steht auf seinem Stein. Körte erzählt von einem Vorfall, als ein Mitarbeiter von einer Leiter aus in einen Behälter schauen wollte, doch sie war beschädigt und er stürzte. „Die Sichtprüfung vergessen!“, ruft der Teilnehmer.

Unterweisung mal anders: mit einem interaktiven Geschicklichkeitsspiel.Unterweisung mal anders: mit einem interaktiven Geschicklichkeitsspiel.

Körte nutzt die Gelegenheit und geht auf aktuelle rechtliche Änderungen bei Leitern ein. Plötzlich verselbstständigt sich das Spiel. Begeistert stapelt das Team die Steine, immer wieder tauchen unsichere Verhaltensmuster auf: Ich habe mich auf dem Rollgerüst verfahren lassen. Ich wollte das mal eben machen. „Gerade dieses improvisierte Handeln ist ein Problem“, so Körte. „Dabei ist den meisten nicht bewusst: Sie riskieren ihre Gesundheit oder gar ihr Leben für ein paar Sekunden Zeitersparnis, wenn sie zu schnell mit dem Auto unterwegs sind oder sich auf dem Rollgerüst verfahren lassen.“

Ich habe keine Persönliche Schutzausrüstung gegen Absturz genutzt. Rumms! Gerade als Körte darauf hinweisen will, dass Unfälle dann oft tödlich enden, kippt der Turm unter dem er­schrockenen Lachen der Teilnehmenden mit großem Getöse um. „Wenn ich einmal nicht sicher arbeite, muss es nicht sofort zum Unfall kommen. Aber es bleibt etwas zurück, ein Loch im Turm. Irgendwann geht es schief – das ist unvermeidbar, wenn ich den Arbeitsschutz missachte“, fasst Körte die Situation zusammen.

Die Idee in Aktion: Der umgekippte Holzturm symbolisiert einen Arbeitsunfall.Die Idee in Aktion: Der umgekippte Holzturm symbolisiert einen Arbeitsunfall.

Ausgezeichnete Ideen

Arbeitsschutz zum Mitmachen: Ute Emsel koordiniert den Sicherheitspreis bei der BGHM.Arbeitsschutz zum Mitmachen: Ute Emsel koordiniert den Sicherheitspreis bei der BGHM.

„Je öfter ich unsicher arbeite oder eine unsichere Situation zulasse, desto höher die Wahrscheinlichkeit einen Unfall zu erleiden. Das visualisiert der Turm“, erzählt Aufsichtsperson Mühlmann später. Körtes Idee, den umgekippten Turm als Sinnbild für einen Arbeitsunfall zu nutzen und den Lernstoff spielerisch zu verpacken, überzeugte ihn und seine Kollegin Ute Emsel. Emsel koordiniert den Sicherheitspreis der BGHM. Besonders wirkungsvolle Ideen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes zeichnet die BGHM mit dem „Schlauen Fuchs“ aus – so auch diese. „Das Spiel ruft den Beschäftigten Situationen vor Augen. Sie kommen ins Gespräch, ins Grübeln“, sagt Emsel. „Es ist ein schönes Instrument zur Aktivierung.“

„Über die Auszeichnung mit dem Schlauen Fuchs haben wir uns riesig gefreut. Bei der Verleihung war auch unsere Geschäftsführung dabei“, blickt Körte auf die Preisverleihung zurück. „Beim Arbeitsschutz ist es wichtig, dass Geschäftsführung und Führungskräfte mit gutem Beispiel vorangehen“, weiß Mühlmann aus der Praxis. Die Geschäftsführung fördert Körtes Initiativen. Daher haben sie ihm eine zweite Sicherheitsfachkraft zur Seite gestellt. Gemeinsam sind sie nun auf den Baustellen vor Ort unterwegs.

Kontinuierliche Verbesserung

Die neue Form der Unterweisung hat inzwischen eine hohe Akzeptanz im Betrieb. „Arbeitsschutz bleibt damit im Gespräch“, so Mühlmann. Als Aufsichtsperson ist er für Körte auch der Ansprechpartner, wenn es um rechtliche Fragen geht. Bei Bedarf stellt er den Kontakt zu weiteren BGHM-Fachleuten her: Sie wirken mit Exponaten an Sicherheitstagen mit oder führen Lärmmessungen durch. Über das Portal „meineBGHM“ bucht Körte Seminare in BGHM-Bildungsstätten. Beim verhaltensbasierten Arbeitsschutz hat er weitere Pläne, denn das Turm-Projekt war nur ein Baustein: „Zuletzt sanken unsere Unfallzahlen, auch die Unfallschwere hat abgenommen – wir beobachten, ob der Unfallturm ein Schlüssel dafür ist und der Trend nach unten anhält.“

Seit einiger Zeit steht die Sicherheitsfachkraft im Austausch mit einem Arbeitspsychologen der BGHM. Wie lassen sich im Baustellenumfeld Beschäftigte zum besonnenen Arbeiten animieren, trotz Termindruck oder Personalausfällen? Das ist Körtes Leitfrage. Er hat Workshops entwickelt, um Beschäftigte aus allen Hierarchien zu Sicherheitslotsen auszubilden – für das Pilotprojekt mit Führungskräften wurde er vom BGHM-Arbeitspsychologen unterstützt. Anhand von Beispielen guter Praxis lenken sie den Fokus auf sichere Arbeitsweisen und verstärken dieses sicherheitsgerechte Verhalten positiv.

„Vieles passiert aus Gewohnheit, zum Beispiel den Helm nicht aufzusetzen“, sagt Mühlmann. „Es ist möglich, Gewohnheiten zu verändern und sicherheitsgerechtes Verhalten zu automatisieren.“ „Das ist wie ein Anschnallgurt im Auto“, wirft Körte ein. „Darüber denke ich nicht mehr nach. Führungskräfte müssen die Schutzausrüstung zur Verfügung stellen – es ist an mir, sie dann auch zu tragen.“ Dieses Bewusstsein nehmen die Lotsen mit in den Arbeitsalltag.  

Für dieses Ziel sind die Geschichten aus der  Praxis und ein offener Umgang mit Fehlern wichtig. Der Kollege mit der Platzwunde, der seinen Helm nicht getragen hatte, hat Körte für das Turmspiel ein Foto von der Wunde geschickt. „Er dachte einfach nicht, dass ihm so etwas passieren kann und wollte seine Erfahrung weitergeben. Der Mensch geht davon aus, unverwundbar zu sein, das sieht man auch im Straßenverkehr“, sagt Körte. „Solche Geschichten können Einstellungen verändern.“

Über Arbeitsschutz sprechen, sich trauen, unsichere Situationen anzusprechen, mit gutem Beispiel vorangehen – „ob Unfallturm oder Sicherheitslotsen, unser Ziel ist stets sicheres Arbeiten, unsere Gesundheit. Daran arbeiten  wir gemeinsam mit der BGHM: die Geschäfts­führung, ich als Sicherheitsfachkraft und die  Beschäftigten.“  

Milena Bähnisch, BGHM

Schlauer Fuchs: Die BGHM zeichnet wirkungsvolle Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes aus.Schlauer Fuchs: Die BGHM zeichnet wirkungsvolle Maßnahmen zur Verbesserung des Arbeitsschutzes aus.

Gut zu wissen: Aufsichtspersonen

Mit ihren vielfältigen Präventionsleistungen unterstützt die BGHM Betriebe im Arbeitsschutz. Erste Adresse dafür sind die Aufsichtspersonen. Sie beraten Mitgliedsbetriebe zum Arbeitsschutz, sind als Referentinnen und Referenten in Seminaren tätig und ermitteln die Ursachen von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsgefahren.

Weitere Informationen

Ausgabe 1/2023